Jüdisches Lehrhaus Göttingen Gründungsveranstaltung am 16. Juni 2002 Thomas Bürgenthal

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Jüdisches Lehrhaus Göttingen e.V.

 

Festvortrag zur Feierlichen Eröffnung des Jüdischen Lehrhauses von Prof. Dr. Thomas Bürgenthal

 
Mein Urgroßvater und meine Urgroßmutter sind auf dem jüdischen Friedhof in Göttingen begraben. Als meine Mutter, die in Göttingen geboren wurde, 1945 nach Göttingen aus dem KZ-Lager zurückkam, konnte man auf der Groner Straße 52 noch den Namen „Schuhgeschäft Paul Silbergleit“ unter dem Schild „Möbelgeschäft Völkel“ erkennen. Ich sah den Namen des Geschäfts meiner Großeltern auch noch ein Jahr später, als ich in Göttingen ankam. Heute ist ein anderes Geschäft in dem Haus. Mit dem neuen Namen und der neuen Farbe ist auch die letzte Spur der Familie Silbergleit in Göttingen verwischt worden und verschwunden. Damit teilt meine Familie das Schicksal der ehemaligen jüdischen Bürger der Stadt Göttingen. Das ist ja auch eine Metapher der deutsch-jüdischen Vergangenheit, die sich hier in Göttingen, aber nicht nur hier, abgespielt hat.

Ich erzähle die Geschichte des Schildes nicht nur, um meine Verbindung zu Göttingen herzustellen, sondern auch um meine Anwesenheit hier unter Ihnen für mich zu rechtfertigen. Ich habe die Einladung von Frau Tichauer Moritz zu dieser Veranstaltung angenommen, weil meine Mutter und meine Göttinger Großeltern das gewollt hätten. Dass es in Göttingen, nach all dem, was hier nach 1933 passiert ist, wieder eine wachsende jüdische Gemeinde und jetzt auch ein jüdisches Lehrhaus gibt, das hätte sie erfreut, und das gibt mir Hoffnung. Ich bin heute hier, um dieser Hoffnung Ausdruck zu geben und somit auch die Relation und Kontinuität zwischen der jüdischen Vergangenheit in dieser Stadt und ihrer neuen Göttinger Zukunft wenigstens in einem kleinen Maße zu fördern.

Ich gratuliere damit denjenigen unter Ihnen, Juden und Nicht-Juden, die zu der Verwirklichung dieses jüdischen Lehrhauses, dessen Eröffnung wir heute feiern, beigetragen haben. Ich freue mich auch ganz besonders, Herr Ministerpräsident, dass Sie heute hier sind. Ihre Präsenz ist ein dramatischer Beweis dafür, dass die vereinzelten antisemitischen Stimmen, die leider wieder in Deutschland zu hören sind, nie wieder den herrschenden Geist der Toleranz der großen Mehrheit in diesem Lande besiegen und verführen werden können.

Diese Veranstaltung beweist auch, dass wir die schreckliche Vergangenheit zwar nicht vergessen dürfen, aber sie doch überwinden können und müssen. Ich hoffe und will glauben, dass jüdische Kinder heute in Deutschland frei, gleichberechtigt und ohne Angst vor dem Fluch und dem Irrsinn des Antisemitismus aufwachsen können, dass das Judentum als Kultur und Religion in Deutschland eine Zukunft hat und dass Deutschland es heute ohne weiteres akzeptiert, dass Juden, wie vor 1933, einen wichtigen Beitrag zum kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben des Landes leisten können und sollen. All das war überhaupt nicht klar, als ich 1946 wieder mit meiner Mutter in Göttingen vereinigt wurde, und es war auch gar nicht so klar, als ich 1951 nach Amerika auswanderte. Damals glaubten wir nicht, als Juden eine Zukunft in Deutschland zu haben und wir wollten sie auch gar nicht . Deshalb bin ich von der Bedeutung dieser Veranstaltung, d.h. von der Eröffnung eines jüdischen Lehrhauses hier in Göttingen, so sehr beeindruckt und bewegt.

Wie ich das schon andeutete, verließ ich Göttingen Ende 1951, d.h. ich lebe schon 51 Jahre in Amerika. Man könnte deshalb sagen, dass ich beinahe mein ganzes Leben dort verbracht habe, und das kommt mir auch oft so vor. Meine Frau und meine Söhne sind Amerikaner, und leider spricht nur einer von ihnen etwas Deutsch. Ja, man verliert Sprachen in Amerika und das merke auch ich immer wieder, wenn ich ab und zu die Gelegenheit habe, Deutsch zu sprechen. Eigentlich kann das ja gar nicht anders sein, wenn man schon bedenkt, dass ich über ein halbes Jahrhundert nicht mehr in Deutschland lebe und nur selten Deutsch spreche.

Frau Tichauer Moritz und ihre Mitarbeiter haben mich zu dieser Veranstaltung eingeladen und mich gebeten, Ihnen etwas über mein Leben vor meiner Emigration nach Amerika zu erzählen und dabei auch von meiner Göttinger Zeit zu sprechen. Damit soll ich gleich einen kleinen Beitrag zu der nahen Vergangenheit, die ja in dem neuen Lehrhaus im Vordergrund des Studiums und der Debatte stehen wird, leisten.

Für die meisten Menschen meines Alters können die ersten 17 Jahre ihres Lebens gar nicht bemerkenswert sein. Das kann man in meinem Fall leider nicht sagen, denn ich hatte schon vor meiner Auswanderung nach Amerika beinah ein ganzes, nicht gerade angenehmes, Leben hinter mir. Dieses Leben fing schon mit meiner Geburt im Jahre 1934 an, denn 1934 war doch kein gutes Jahr für die Geburt eines jüdischen Kindes in Europa. Mein Vater, der aus Polen stammte, aber in Berlin lebte, verließ Deutschland schon Anfang 1933 und zog in die Slowakei. Meine Mutter lernte ihn dort noch in dem selben Jahr bei einer kurzen Ferienreise kennen. Sie heirateten kurz danach in der Slowakei, wo ich geboren wurde. Damals lebten meine Großeltern noch in Göttingen, und meine Mutter konnte sie noch kurz nach meiner Geburt einige Male in Göttingen mit mir besuchen. Das ging nach 1937 natürlich nicht mehr.

Der deutsche Einmarsch in die Tschechoslowakei zwang uns zur Flucht nach Polen. Von dort sollte es weiter nach England gehen – wir hatten nämlich schon ein Visum für England – aber dann brach der Krieg aus und so blieben wir in Polen stecken. Das Schicksal meiner kleinen Familie – ich hatte keine Geschwister – wurde natürlich auch von Millionen anderen jüdischen Familien in Europa geteilt, nur dass wir, d.h. meine Mutter und ich, Glück hatten, wenn man das so sagen darf, denn wir überlebten den Holocaust – mein Vater aber nicht. Er wurde noch kurz vor Ende des Krieges in einem KZ-Lager erschossen. Unser Schicksal führte uns in das Ghetto von Kielce in Polen, zwei Arbeitslager und von dort dann nach Auschwitz/Birkenau und Sachsenhausen, wo ich befreit wurde. Ich bin anscheinend einer der Jüngsten, der Auschwitz überlebt hat.

In dem Ghetto von Kielce sah ich noch meine Großeltern. Sie wurden nämlich von Göttingen 1942 ins Warschauer Ghetto deportiert. Hier gelang es meinem Vater, meine Großeltern aus dem Warschauer Ghetto zu uns nach Kielce kommen zu lassen. So konnte ich sie noch kennenlernen. Wir waren aber leider nur eine sehr kurze Zeit zusammen, denn sie kamen nach der Aussiedlung des Kielcer Ghettos in dem Vernichtungslager von Treblinka in Polen noch im selben Jahr, d.h. 1942, um.

Mein Vater, meine Mutter und ich kamen 1944 zusammen in Auschwitz an. Dort wurde ich erst von meiner Mutter getrennt und dann nach etwa zwei Monaten auch von meinem Vater. Dass ich nicht gleich bei der Ankunft in Auschwitz/Birkenau als kaum 10-jähriger Junge in die Gaskammer kam – so sind nämlich die meisten Kinder, die nach Auschwitz geschickt wurden, umgekommen – hing damit zusammen, dass wir aus einem Arbeitslager kamen und uns deshalb nicht einer Selektion auf dem berüchtigten Bahnsteig in Auschwitz-Birkenau unterziehen mussten. So hatte ich Glück im Unglück.

Ich überlebte dann noch mehrere Selektionen in Auschwitz, die mich sonst in die Gaskammer geführt hätten, und danach den Todesmarsch aus Auschwitz im Januar 1945. Dabei ging es erst drei Tage zu Fuß bis Gleiwitz – wer nicht weiter marschieren konnte, wurde gleich auf der Landstraße erschossen – und dann 12 Tage mit einem Zug in offenen Waggons nach Oranienburg, wo sich das KZ-Lager Sachsenhausen befand. In diesem Transport, das erfuhr ich später, starben mehr als die Hälfte von uns. Ich kann es bis heute noch immer nicht glauben, dass es mir gelang, diesen Transport nur mit dem Verlust zweier Zehen, die mir in Sachsenhausen amputiert wurden, zu überleben. Ich werde die Kälte und den Hunger nie vergessen.

Ich wurde im April 1945 von russischen Soldaten in Sachsenhausen befreit. Die Befreiung bestand nur daraus, dass sie uns sagten, wir könnten das Lager jetzt verlassen. Wir bekamen von unseren Befreiern keine Verpflegung und keine medizinische Hilfe. Das führte dazu, dass die Häftlinge die SS-Küche und Lebensmittelspeicher des Lagers stürmten und dass mehrere Menschen dann zu viel aßen, was sie ja nicht gewöhnt waren, und davon starben. Ich eroberte mir nur eine Gurke. Zum Glück hatte ich nach all den Jahren des Hungers überhaupt keinen Appetit, viel zu essen.

Ein oder zwei Tage nach unserer Befreiung verließ ich mit mehreren Häftlingen hinkend das Lager, d.h. das Revier, wo man mir meine Zehen amputiert hatte. Auf einer Landstraße trafen wir kurz danach auf polnische Soldaten der polnischen Division, die von den Sowjetrussen vor Ende des Krieges mobilisiert wurde. Weil ich Polnisch sprach, nahmen die Soldaten mich als polnisches Kind mit. So wurde ich das Maskottchen der polnischen Kosciuszko-Division. Meine Kompanie nahm an der Schlacht um Berlin teil. Später konnte ich deshalb meinen Kindern erzählen, ich hätte Berlin erobert. Bei den polnischen Soldaten lernte ich dann auch, viel Wodka zu trinken. Um mir Appetit zum Essen zu machen, gaben die Soldaten mir vor dem Essen einige Löffel Wodka. Das hatte den nötigen Effekt – ich bekam Appetit und konnte später in meiner Studentenzeit, wie man das so auf Englisch sagt, meine Freunde unter den Tisch trinken.

Nach dem Rückzug meiner Division nach Polen verbrachte ich eine kurze Zeit in einer polnischen Kaserne und wurde dann in ein jüdisches Waisenhaus in der Nähe von Warschau gebracht. Dort fand mich meine Mutter mit Hilfe eines Suchdienstes, mit dem sich mein Onkel in Amerika – er wanderte 1938 aus Göttingen aus – in Verbindung gesetzt hatte. Das war im Herbst 1946. Ende Dezember 1946, d.h., beinahe drei Jahre nach unserer Trennung in Auschwitz, wurde ich mit meiner Mutter, mit Hilfe einer amerikanischen Organisation, die mich illegal aus Polen über die Tschechoslowakei und die amerikanische Zone nach Göttingen in der britischen Zone brachte, wiedervereinigt – illegal, weil ich keine Papiere hatte und es deshalb Monate gedauert hätte, die nötigen Ein- und Ausreiseerlaubnisse zu bekommen.

Meine Mutter kam Ende 1945 nach Göttingen zurück. Sie hatte Auschwitz und das KZ-Lager Ravensbrück überlebt und wurde in der Nähe von Ravensbrück befreit. In der Hoffnung, meinen Vater und mich wiederzufinden, schlug sie sich zu Fuß, per Lastwagen und den wenigen Zügen, die es damals noch gab, nach Kielce durch. Mein Vater und meine Mutter hatten nämlich einige Nachkriegstreffpunkte vor ihrer Trennung in Auschwitz vereinbart – darunter Kielce und Göttingen – falls sie überlebten. Erfolglos und schwer deprimiert reiste sie von Kielce wieder nach Deutschland. Sie kam sehr krank in Göttingen an und musste eine Zeitlang im Spital verbringen, wo sie zum größten Teil mit schweren Dosen von Luminal und anderen Schlafmitteln behandelt werden musste.

Die Rückkehr nach Göttingen war für meine Mutter zuerst natürlich nicht gerade leicht. Hier erfuhr sie, dass mein Vater nicht mehr lebte und dass es kaum möglich sein könnte, dass ich den Krieg überlebt hätte. Das Göttingen ihrer Geburt stand unverändert da – Göttingen wurde ja von der Zerstörung des Krieges verschont – aber die Stadt ihrer Jugend existierte nicht mehr. Die Eltern meiner Mutter waren tot, sowie ihre Tante und Onkel. Ihre anderen Göttinger Verwandten waren auch nicht mehr da; sie konnten entweder noch vor dem Krieg auswandern oder wurden auch von den Nazis ermordet. Ihre Göttinger Freundinnen, die meine Mutter nach ihrer Rückkehr mit großer Freude auf der Straße begrüßten, waren oft dieselben, die sie nach 1933 nicht kannten und nicht mehr grüßten.

Noch viele Jahre später erzählte meine Mutter eine Episode aus dieser Zeit. Wahrend sie eines Tages gerade dabei war, die Weender Straße zu überqueren, kam eine alte Dame auf sie zu und bat sie, ihr über die Strasse zu helfen. Mit den Worten, „hier hat niemand meiner Mutter über die Straße geholfen“, drehte sich meine Mutter um und ging in die andere Richtung. Später, als sie ihren Schmerz über das, was sie in Deutschland erlitten hatte, und ihre Wut gegen Deutschland langsam überwinden konnte, sprach meine Mutter oft über diesen Vorfall und schämte sich, dass sie, wie sagte, sich so „unverzeihlich gegenüber der armen Frau benommen hatte, denn die konnte ja nichts dafür.“

Wie Sie daraus ersehen können, dauerte es eine Weile, bis meine Mutter nach ihrer Rückkehr die Vergangenheit in den Hintergrund ihres neuen Göttinger Lebens drängen konnte. Dazu haben verschiedene liebenswürdige und ermutigende Gesten von Göttingern beigetragen. Lassen sie mich nur zwei Beispiele zitieren. Kurz nachdem sie aus dem Spital kam, suchte eine ehemalige Nachbarin meiner Großeltern meine Mutter auf und brachte ihr einen Koffer, den meine Großeltern vor ihrer Deportation nach Polen bei dieser Familie zur Aufbewahrung hinterlassen hatten. Der Besuch dieser mutigen Nachbarin – wer weiß, was ihr passiert wäre, falls die Gestapo den Koffer bei ihr gefunden hätte – machte meiner Mutter viel Freude. Ich weiß nicht, was der Koffer alles enthielt, nur, dass darin auch mehrere Familienbilder lagen. Dieser Nachbarin verdanken wir die wenigen Fotos unserer Familie, die wir nach dem Krieg finden konnten. Uns wurde ja alles im Lager abgenommen. Für meine Mutter, die damals noch ganz alleine war, hatten diese Aufnahmen und der übrige Inhalt des Koffers eine ganz besondere Bedeutung. Diese letzte Botschaft ihrer Eltern stärkte ihren Willen zum Leben. Dazu kam noch, dass ungefähr zur selben Zeit Herr Fritz Schügl, der Großvater des heutigen Inhabers des Juweliergeschäfts Schügl, meiner Mutter eine Wohnung in seinem Haus in der Wagnerstrasse anbot. Die meisten von Ihnen werden es aus eigener Erfahrung wahrscheinlich nicht wissen, aber in den ersten Nachtkriegsjahren war es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Die Liebenswürdigkeit der Familie Schügl und die schöne Wohnung halfen ihr, ihre Gesundheit langsam zurückzubekommen. Dafür waren wir der Familie Schügl immer sehr dankbar, und das bin ich noch heute.

Wie ich das schon früher erwähnte, kam ich Ende Dezember 1946 in Göttingen an. Ich werde das Wiedersehen mit meiner Mutter hier nicht beschreiben, sonst könnte ich die Tränen nicht verbergen und auch nicht weiter sprechen. Aber Sie können sich bestimmt diesen Moment vorstellen. Meine Mutter hatte die Hoffnung nie aufgegeben, mich wieder zu finden, obwohl man ihr oft sagte, dass ein Kind meines Alters das Lager nicht hätte überleben können. Das wollte sie einfach nicht akzeptieren. Dazu wurde sie in ihrer überzeugung gestärkt, als sie in einer Zeitung das Bild eines englischen Soldaten mit einer Gruppe jüdischer Kinder in Berlin sah und darauf bestand, mich unter ihnen erkannt zu haben. Ich war zwar ungefähr zu dieser Zeit in Berlin, aber nicht mit englischen Soldaten zusammen.

Als ich in Göttingen ankam, war ich 12 Jahre alt. Im Lager gab es keine Schulen und jeglicher Unterricht war außerdem verboten. Ich konnte deshalb nicht lesen und schreiben, obwohl meine Eltern natürlich versuchten, mir das etwas beizubringen. Meinen ersten Schulunterricht bekam ich erst in einer polnischen Volksschule in dem Waisenhaus in der Nähe von Warschau. Ich verbrachte aber nur einige Monate in dieser Schule. In Göttingen musste ich deshalb die verlorenen Jahre nachholen, um in eine Klasse mit Schülern meines Alters kommen zu können. Das wurde mir eigentlich sehr leicht gemacht, denn meine Mutter fand einen phantastischen Privatlehrer – einen pensionierten Studienrat – von dem ich ein Jahr jeden Tag zwei bis drei Stunden Privatunterricht bekam. Hier musste ich erst Deutsch lesen und schreiben lernen und dann mit anderen Fächern weitermachen. Herr Biedermann war ein wunderbarer Lehrer. Zum Lesen verlockte er mich zuerst sehr schnell mit den Büchern von Karl May. (Ich bin heute wahrscheinlich einer der wenigen Amerikaner, der die meisten Karl-May-Bücher gelesen hat.)

Mein Unterricht fing jeden Tag mit einem Aufsatz, den ich in der ersten halben Stunde schreiben musste, an. Das Thema war immer das Gleiche: ein Bericht über das, was ich auf dem Weg zu Herrn Biedermann gesehen hatte. Um jeden Tag etwas Neues schreiben zu können, versuchte ich immer, einen anderen Weg zu seiner Wohnung einzuschlagen. Nach dem täglichen Aufsatz folgten Geschichtsunterricht, Geographie und Englisch. Später hatte ich Mathematikunterricht mit einem anderen Lehrer, der mir dieses Fach aber nie interessant machen konnte. Nach einem Jahr bei Herrn Biedermann kam ich dann auf die Felix-Klein Oberrealschule (das heutige Gymnasium). Ich glaube, ich fing in der Quarta an und holte damit in einem Jahr Privatunterricht ungefähr sieben Schuljahre nach. Das war aber einfacher als es scheint, denn für einen Jungen von 12 oder 13 Jahren ist die Materie, die kleine Kinder in den ersten Schuljahren lernen müssen, nicht sehr schwer und auch schnell zu erlernen. Als meine Kinder in diesen unteren Klassen waren, haben sie mich immer beneidet, dass es mir gelang, so vielen Schuljahren zu entkommen und stattdessen die ganze Zeit spielen zu können. Na, so war es auch wieder nicht.

Am Anfang war es gar nicht leicht, mich in Göttingen, d.h. in Deutschland, einzuleben. Wie konnte ich es vergessen, dass es die Deutschen waren, die meinen Vater und meine Großeltern ermordet und das selbe Los auch für meine Mutter und mich bestimmt hatten? Es dauerte eine Zeit, bis ich den Hass und das Rachegefühl überwinden konnte. In den ersten Wochen nach meiner Ankunft in Göttingen, wenn ich auf dem Balkon unserer Wohnung saß, wünschte ich mir oft ein Maschinengewehr, um damit die Deutschen, die am Haus vorbeigingen, zu erschießen. Am Sonntag kamen viele Väter mit ihren Familien unter unserem Balkon auf dem Spaziergang zum Hainholzweg vorbei. Für mich waren das dieselben Leute, die meinen Vater, der mir sehr fehlte, ermordet hatten.

Nach einer gewissen Zeit gewöhnte ich mich langsam an das Leben in Göttingen. In der Schule wurde ich von meinen Klassenkameraden gleich gut empfangen. Keiner von ihnen hatte je einen Juden gesehen, obwohl sie mir ab und zu erzählten, sie hätten Karikaturen von Juden in alten Zeitschriften gesehen und sich einen Juden ganz anders vorgestellt, als ich aussah: die hatten schwarze Haare, lange, krumme Nasen, Bärte, usw. Deshalb fragten sie mich am Anfang manchmal, ob ich wirklich ein Jude wäre. Meine Mitschüler waren auch auf mich sehr neidisch, weil sie ein oder zweimal in der Woche Religionsunterricht haben mussten, ich dagegen nicht. Weil es für mich als einzigen jüdischen Schüler keinen Religionsunterricht gab, durfte ich auf dem Schulhof zur gleichen Zeit Fußball spielen.

Die Tatsache, dass meine Mitschüler viel zu jung waren, um für die Mordtaten der Nazis verantwortlich gewesen zu sein, und weil wir bald gute Freunde wurden, trug natürlich auch dazu bei, dass ich mein Hassgefühl jedes Mal auf einen kleineren Kreis von Deutschen beschränkte, bis ich ihn dann nur für die echten Nazis reservierte, aber das wollte natürlich keiner zu dieser Zeit gewesen sein. Nach einer Weile wünschte ich mir nicht mehr das Maschinengewehr auf dem Balkon. Später, aber schon nach meiner Göttinger Zeit, bin ich langsam zu der überzeugung gelangt, dass Hass nur zu mehr Hass führt, und dass wir unseren Kindern und Enkelkinder zuliebe alles machen müssen, um den Hass zwischen Völkern, Religions- und Rassengruppen bezwingen zu können.

Wenn ich heute über meine Göttinger Schulzeit nachdenke, finde ich es doch immer wieder erstaunlich, dass weder meine Mitschüler noch meine Lehrer je etwas über meine KZ-Zeit wissen wollten. Vielleicht schämte man sich, Fragen zu stellen, vielleicht wollte man auch mit diesem Thema nichts zu tun haben oder hatte Angst, es aufzuwerfen. Auf jeden Fall kam das Thema nie zur Sprache. Auch wurde im Geschichtsunterricht die Nazizeit nie erwähnt. Man sprach dagegen viel von der Nibelungensage und von Karl dem Großen. Das waren eben Themen, die nicht gefährlich erschienen, was bei der Zeitgeschichte leider nicht der Fall war. Viele unter den Lehrern waren wahrscheinlich in der Partei und glaubten vielleicht noch, die Entnazifizierung fürchten zu müssen.

Ich könnte Sie, meine Damen und Herren, noch mit meinen Göttinger Erinnerungen weiter langweilen, aber das will ich jetzt nicht tun. Zum Abschluss möchte ich nur betonen, dass weder meine Mutter noch ich hier in Göttingen nach dem Krieg schlecht behandelt worden sind oder dass wir das Gefühl hatten, hier nicht willkommen zu sein. Wir fanden es zwar nicht schwer, Göttingen und damit auch Deutschland in den frühen Nachkriegsjahren zu verlassen, weil wir uns einfach von all dem, das uns hier an die Vergangenheit erinnerte, entfernen wollten. Das heißt, wir wollten ein normales Leben in einem anderen Land leben können. Ich weiß nicht, meine Damen und Herren, ob Sie dieses Sentiment verstehen können. Es hatte nichts mit Rache oder Hass zu tun, sondern mit dem Bedürfnis, einen neuen Anfang zu machen.

Ich hoffe deshalb, dass die neue Generation Göttinger Juden und ihre nicht-jüdischen Göttinger Mitbürger, die jetzt schon sehr weit von der Nazivergangenheit entfernt sind, gemeinsam in dieser schönen Stadt ein neues Leben in Frieden und Freundschaft für sich schaffen können werden. Weil ich davon überzeugt bin, dass das in dem heutigen Deutschland möglich ist, bin ich heute hier. Deshalb danke ich Ihnen auch, mich zu dieser Veranstaltung eingeladen zu haben und gratuliere Ihnen, Frau Tichauer Moritz, und Ihren Mitarbeitern zur Gründung des jüdischen Lehrhauses und wünsche Ihnen viel Glück und Erfolg. 

 

(c) Prof. Dr. Thomas Buergenthal 


 

Grußwort von Sara-Ruth Schumann, stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen und Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Oldenburg

 

Rede der ersten Vorsitzenden Eva Tichauer Moritz

 

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