Sonntag, 18. Oktober 2009
"Halacha in Extremsituationen"
Veranstaltung mit Landesrabbiner Jonah Sievers
Leider waren nur 18 Teilnehmer bei diesem „Lehrhaus" – das Thema hätte sicherlich mehr Zuhörer und Lernende verdient.
Rabbiner Sievers erklärte gleich zu Beginn, dass es eine sehr ernste, sogar traurige Veranstaltung werden würde – er werde
„tacheles" reden (müssen).
Diese Ankündigung bewahrheitete sich – unter Vorlage von Texten aus den Responsa Wkadeschej HaSchem des Rabbiners Zvi Hirsch
Meisels, der während der Besetzung Litauens durch die Deutschen im Ghetto Kowno war, wurde uns deutlich gemacht, dass selbst
unter den grausamen und unmenschlichen Bedingungen im Ghetto von noch Fragen an den Rabbiner gestellt wurden, die im Grunde
unannehmbar, unbeantwortbar waren. Trotz der Extremsituation – Gefangenschaft und Lebensgefahr – die Ghettoisierten wussten,
was mit Menschen geschah, die „selektiert" wurden -, gab es Gläubige, die auch unter Umständen, die durchaus geeignet
waren, nicht nur den Glauben an die Menschen, sondern auch an Gott zu verlieren, der zuließ, dass Deutsche und Litauer
Juden jagten, quälten, ermordeten, nach der Torah und Talmud zu leben.
Schon das erste auf Tatsachen beruhende Beispiel war derart berührend und bedrückend, dass es vielen Teilnehmern der
Veranstaltung kalt über den Rücken gelaufen und ans Herz gegangen sein muss: Ein Vater fragte, ob er seinen Sohn von der
geplanten Selektion „auslösen" dürfte, wenn an seiner Statt dann ein anderes Kind an der Selektion teilnahmen müsste – es
war von der SS angeordnet worden, dass 1400 Kinder im Ghetto Kowno unter einen Stab hindurchgehen sollten – diejenigen,
die den Stab überragt oder zumindest berührt hätten, wären groß und kräftig genug gewesen, um zu arbeiten – sie wären also
den Nazis noch zumindest eine Weile nützliche Arbeitssklaven gewesen – diejenigen, die zu klein waren, wären sofort ermordet
worden.
Der befragte Rabbiner meinte, ohne Talmud, ohne weitere Rabbiner, könne er eine solche Frage von Leben und Tod nicht klar
entscheiden. Es war indes klar, dass auf jeden Fall anderes Kind sterben müsste, weil die Zahl, die die Kapos der SS zu
liefern war, fest stand. Ebenso war klar, dass vor der Freilassung des Sohnes ein anderes jüdisches Kind für den Tod bestimmt
werden würde – dies war gewiss. Der Vater entschied sich schließlich, dass er sein Kind nicht auslösen, von den Kapos
freikaufen würde – weil er meinte, die Torah würde es nicht erlauben, weil es besser sei „getötet zu werden als zu morden".
Dieses geschah am Erew RoschHaSchana.
Ebenfalls im Ghetto Kowno, in das 30.000 Menschen eingepfercht waren, hätten sich 5000 Menschen durch die Annahme sog.
„weißer Scheine" vor der Deportation – die, wie man wusste, den sicheren Tod bedeutete, retten können.
Hier wurde die Frage, ob der Ältestenrat überhaupt die rettenden „Scheine" ausgeben dürfe und ob Menschen berechtigt waren,
sich gegebenenfalls auch mit Gewalt diese zu beschaffen, anhand von Talmud und den Kommentaren von Maimonides, Moses Isserles
u.a. diskutiert.
Letztendlich wurde bejaht, dass Menschen sich selbst des „Scheines" bemächtigen dürften, weil es um „Rettung aus Lebensgefahr"
ginge und kein Mensch verpflichtet sei, sein Leben aufzugeben, wenn er die Möglichkeit hätte, es zu retten. Auch die Ausgabe
der „Scheine" durch den Ältestenrat wurde letztendlich als „erlaubt" beurteilt.
Deutlich wurde, dass diese Fragen alle keineswegs eindeutig sofort beantwortet werden konnten (und können), sondern vielmehr
kontrovers kommentiert und diskutiert wurden.
Rabbiner Sievers stellte uns eine Sammlung von Quellen zur Verfügung, die zeigten, auf welchen Grundlagen diese „Fragen"
diskutiert und entschieden wurden.
Zur Situation von Juden in Litauen möchte ich auf 2 Veröffentlichungen hinweisen aus der Reihe „Galut Nordost". Zeitschrift
für jüdisch-baltische Kultur.
Sonderheft 2-. Die vergessenen Juden in den baltischen Staaten
Sonderheft 3-. Paul Gerhard Aring. „Wenn dich deine Kinder fragen..." Impressionen jüdischen Lebens in Litauen
Cornelia Stocker, M.A.
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