Franz Rosenzweig an Margrit Rosenstock,
28. Mai 1918:


"Dir muss ich noch ganz rasch etwas von Warschau schreiben: ich fand die erste jüdische Bibelübersetzung und Gebetbuchsübersetzung - und natürlich eine Übersetzung ins Jüdische; wie hätte es anders sein können. Ein Gebetbuch mit den Psalmen drin; die paar Stellen, die ich suchte, waren so erschütternd jüdisches Deutsch, dass ich es gleich kaufte. Niemand weiss von wem die Übersetzung ist; ich habe viele Leute gefragt. Ich glaube es ist das - kennst du Luthers Traktat vom Dolmetschen? (Reklam!) (ganz kurz). Da schimpft er auf die "Esel" die gratia plena übersetzen "voller Gnaden", man müsse der Mutter und dem Kinde auf der Gasse aufs Maul kucken und übersetzen: gegrüsst sei du liebe Maria. Aber er selber als es Ernst wurde übersetzte dennoch, sehr sprachmeisterlich, aber eben Meister, nicht mehr Volk,: du Holdselige. Hier aber ist die Übersetzung ganz Volk geblieben, ganz "Gasse" und "Stübel". Es ist so selbstverständlich, dass es das geben musste, und doch war ich nicht darauf gekommen."

 

Warschau Judenviertel 1915

Warschau Leszno Straße 1915 Eingang zum Judenviertel mit nachträglich von Kinderhand eingezeichneten Zeppelinen und Fesselballon (Warschau wurde während des Krieges auch von Zeppelinen bombardiert). In Warschau lebten 1917 350 000 Juden bei einer Gesamtzahl von 875 000 Einwohnern.

 
 

Franz Rosenzweig an seine Mutter,
18. Mai 1918:

"In Warschau war ich Sonnabend abends von kurz vor sieben, Sonntag von drei an; […] ich war hauptsächlich im Judenviertel [..]; die Hauptsache waren die Lieder [beim Essen am Freitagabend – C.T.]; so etwas habe ich noch nicht gehört; die brauchen keine Orgel; ein solcher rauschender Enthusiasmus, Kinder und Greise durcheinander. […] Auch ein Beten wie dort habe ich noch nicht gekannt."

Juden in Nasielsk ca 1917

Juden in Nasielsk ca 1917
Juden in Nasielsk, einen kleinen Städchen nördlich von Warschau, ca 1917

 
 

Franz Rosenzweig an seine Mutter,
23. Mai 1918:

"Ich verstehe wohl wie der deutsche Durchschnittsjude die Verwandtschaft mit dem Ostjuden nicht mehr spürt, er hat sie eben wirklich stark verloren, er ist wirklich verphilistert, verbourgeoist, aber ich und Leute wie ich müssen sie eigentlich unmittelbar spüren."

 
 

Franz Rosenzweig an seine Mutter,
10. Juni 1918:

"Nur Juden werden nervös, wenn sie Juden sehen. Christen werden gehässig, aber nicht nervös. Unser feiges Mitsingen der Verleumderarien gegen die polnischen ist das Beschämendste unter dem vielen Beschämenden, woraus das Jüdische Leben in Deutschland sich zusammensetzt."

 
Franz Rosenzweig