Franz Rosenzweig an seine Eltern,
9. September 1914:


"Ich habe noch nie gewusst, wie ganz und gar nicht ich mich als Deutscher fühle wie seit dem Kriegsausbruch. Wäre ich nicht materiell bis zu einem gewissen Grade ebenfalls in der Lage, einen deutschen Sieg wünschen zu müssen, so wüßte ich nicht, warum ich nicht, warum ich gerade den Deutschen, Österreichern und Türken den Sieg wünschen sollte und nicht den Franzosen, Russen und Japanern. Wie widerwärtig mir die ganze Menschenschlächterei überhaupt ist, kann ich gar nicht sagen. Hoffentlich ist es bald zu Ende. Freilich wird der Frieden nach einem deutschen Sieg wahrscheinlich so widerwärtig werden, dass man sich vielleicht die Zustände dieser Kriegsmonate wieder zurückwünschen wird."

 
 

Franz Rosenzweig an seine Eltern,
15. April 1915:

"Ihr wisst, dass ich diesen Schritt nicht zum Vergnügen getan habe, und dass ich ihn lange hinausgeschoben habe. Auch hatte ich es Euch ja schon vor einem Monat hier gesagt, daß ich nunmehr, nachdem der Landsturm aufgeboten ist, es für meine Pflicht halte, mich nicht durch die gefahrlose Pflegertätigkeit vor der Gefahr zu drücken. Dieser Pflichterfüllung steht nunmehr, da ich mich nicht mehr (wie etwa im August) freiwillig dazu stellen müsste, sondern einfach 'dran' bin, von mir und meiner Lebensanschauung aus nichts mehr im Wege. Also bleibt mir kein anständiger Ausweg. Gern tue ich es natürlich nicht, ich bin von Natur feige und werde für einen guten Soldaten viel zu nervös sein. Aber es musste sein."

 

Franz Rosenzweig, Das Kriegsziel,
Frühjahr 1917:

Selber stark zu sein, das ist das einzige, was die Zukunft ganz gewiß vom Staat verlangen wird. […] An den Grenzen wehrt sich der Staat seines Lebens, aber nicht aus der Grenze wächst ihm die Kraft dazu; aus dem Innern muß die Mannschaft herbeiströmen. Und darum gibt es nur ein einziges Kriegsziel: den Leib des Staates so zu stärken, daß er jeden Feind von jeder Seite, woher er ihm nahen möge, begegnen kann mit der gesammelten Wucht der im Innern geballten Kraft.
 

 

Franz Rosenzweig, Vox Dei?,
Herbst 1917:

Blicken wir nun um uns und sehen die Völker in diesem Krieg: Fünf Völker sind es, die so ganz in ihm leben, daß wir das Gesetz des 'Alles' an ihnen ablesen können, die anderen nehmen teils nur als Hilfsmächte ihren peripherischen Anteil, teils ist ihnen dieser Krieg nur Teil einer größeren Epoche, die, älter als sein Ursprung, auch sein Ende überdauern wird. Diesen tritt nicht ihr Alles in diesen Krieg oder nicht in diesen Krieg ihr Alles; nur bei jenen ist das demokratische Problem, das handelnde Volk, ein Kreis, der sich mit dem Schicksalskreis des im August 1914 anhebenden Krieges genau deckt. Nur auf diese also können wir hier abzielen.
Englands Volk trat in den Krieg unter Losung für Belgien, für Seeherrschaft, für die kleinen Nationen, für das europäische Gleichgewicht, für die Beständigkeit geschriebener Verträge, gegen Machtpolitik, Notrecht, Militarismus. Es ist leicht, das alles als 'Phrase' abzutun. Gleichwohl, Phrase oder nicht, bleibt es die Losung, die kräftig genug war, ein ganzes Volk, die Mitläufer-Völker noch ungerechnet, ganz in diesen Krieg hineinzuführen und darin zu erhalten. Und wirklich umschreiben diese Bannersprüche den Kreis von Englands nationalem Sein, sowohl dem des Volkes wie der Volkheit, geben also dem Verteidigungsgedanken vollwertigen Inhalt. Denn jeder Engländer, Lord wie Arbeitsmann, wußte, daß sein gewohntes Leben, sein Anteil an den Gütern der Welt, seine Militärdienstfreiheit, sein Sport, seine Holydays beruhen auf der Ungestörtheit der einen Bedingung, der Inselhaftigkeit, der 'Invasions'-Sicherheit 'dieses Landes'. (...) Denn der englische Mensch, wie er in Jahrhunderten geworden war und sich als den Idealtyp der Menschheit verehren gelernt hatte, der gradgewachsene, nackensteife, ehrenhafte, unhinterhältige, zuverlässige, kurzum männliche Mann, dem Gestrüpp und Schlamm des Lebens nicht bis an die Knöchel gehen, diese achtunggebietende Leistung der englischen 'Volkheit', wird in Frage gestellt in dem Augenblick, wo er und sein Land in das hart im Raum sich stoßende, tausend Zugeständnisse fordernde, Herrschaft und Dienst erzwingende, schmutzspringende Gedränge der festländischen Verhältnisse hineingezogen wird. Auch der Gentleman kämpft um sein Dasein.
Frankreichs Volk wurde in den Krieg gehetzt mit dem Feldgeschrei, das seine Kinder seit 43 Jahren auf der Schulbank buchstabiert hatten: Rückeroberung der verlorenen Provinzen (...). Die Republik schien unlösbar verwachsen mit der offenen Wunde, die an den Tag ihrer letzten Aufrichtung erinnerte. Verharschte die Wunde, hörte die Nation auf, immer 'daran zu denken', so verlor sie den geistigen Boden, in den sie ihre Wurzeln streckte, unter den Füßen. Und so durfte sie die offenkundige welthistorische Gelegenheit, als der Augenblick sie endlich bot, nicht vorbeigehen lassen.
Rußlands Volk wurde in den Krieg getrieben unter den Bildern des Aufbaus der slawischen Brüderschaft, des Wachstums der russischen Erde und des Sturzes der Deutschherrnschaft im Landesinneren. Auch hier waren die Ziele, unabhängig von der Regierung, die sie verkündete, wahrhaft volkstümlich. (...).
Habsburgs Völker wurden in den Krieg versetzt für kein anderes Wort als das, was seit Menschengedenken auf dem Wappenschild der Monarchie allsichtbar geschrieben stand: viribus unitis. Der Ablativ braucht nur als Dativ gelesen zu werden; so schlechtweg ist der Wahlspruch des Reichs auch der Wahlspruch des Kriegs; so rein ist der Verteidigungscharakter des Krieges für Österreichs Bewußtsein. Vielleicht ist das Dasein nirgends so rein wie hier, etwas niemanden Beleidigendes, nur zu Verteidigendes. (...) Die Erbtochter der ältesten Monarchie Europas, des Kaisertums über den vereinten Kräften der Nationen, ist zugleich die jüngste, das Vorbild des künftigen Reichs, der Vereinigten Staaten Europas, Hüterin der heiligen überlieferung der europäischen Familie, Hüterin dieses Schatzes für den künftigen Gebieter, dem sie die Fülle ihrer Völker schenken wird, selber darum keusch verzichtend, die Völker zum Staatsvolk einzuschmelzen, ganz Staat, ganz Weib zu werden ehe der kommt, der sie dazu machen wird, so harrt die Jungfrau. Und schon naht dem bräutlichen Weib der junge ritterliche Freier.

Deutsches Volk, du erhobst dich zum Krieg und wußtest nur von Verteidigung. Du zogst aus zur Wacht an den Rhein, stachest in See, des Angriffs und der offnen Schlacht, Kiel gegen Kiel, gewärtig, fuhrest die Donau hinab zur Wahrung der Nibelungentreue. Du begriffst nicht, was jene dir übel wollten. Der französische Groll war dir ein unbegriffenes Erbe der Vergangenheit, die dich gewiß geboren hatte, die aber doch vergangen war; du ahntest nicht, daß jenem Volk das für dich Vergangene der geheime Lebensgrund seiner Seele war. Englands Nebenbuhlerschaft aber auf den Meeren und Märkten der Welt erschien dir als ein stählendes Messen der Kräfte, mehr Nebeneinanderwetteifern als ernster Kampf auf Leben und Tod, eigentlich nur ein Bestimmungsschlagen gegen den Blutsvetter von jenseits des dünnen Wassers; aber der war über die Jahre der Burschenherrlichkeit hinaus; ihn griff solche Nebenbuhlerschaft an den Nerv seines Lebens; denn er war darauf gestellt allein zu sein, keinen Gegner anerkannt sich hart auf hart gegenüberzusehen. Am ehesten noch begriffst du den Ausbruch im Osten als deine Tat. Daß du Österreich zusprangst, das hattest du schon zuvor als deinen dunklen folgenschweren Entschluß gewußt, - nicht umsonst hattest du der todgefaßten Treue Hagens und Rüdigers gedacht. Hier war am meisten Tat, Tat ins Abenteuer des Augenblicks versenkt und doch eingewurzelt in alte Zusammenhänge, die hinter deinen Versailler Geburtstag zurückreichten; der Ahnen Versäumnis zu sühnen, alten Hort heimzuholen warst du ausgefahren und versahest dich nicht, daß der Hort inzwischen, indes die Deinen die Jungfrau Österreich auf dem Felsen allein gelassen hatten, längst andrer gierige Augen auf sich gezogen hatte. Verfochtest du gegen Frankreich den Ruhm deiner ehrlichen Geburt, gegen England das Recht deiner ehrlichen Arbeit, so hier gegen Rußland die Freiheit deiner ehrlichen Tat,die Freiheit, dein Bündnis zu wählen, wie es dir das geschichtliche Urgesetz deiner Seele vorschrieb. So zogest du aus, junger Ritter Teuerdank, dir die Braut aus Europas altem Götterstamm zum Lebensbunde zu holen, die dir von der ungeschlachten Eifersucht des schätzegierigen Riesen mit Wut streitig gemacht wurde, indes im gleichen Augenblick der lang gesparte Groll des rachelüsternen Unfrieds und die kühl messende Feindschaft des inseleinsamen Neidhards dir in den Rücken fielen. (...)
So war die Ausfahrt der Völker zur Ernte des August 1914 beschaffen. Und wie blicken sie heute, an der Jahreswende 1917 auf 1918, wo die Tore der Scheuer für die Einfahrt sich öffnen?
Es ist alles geblieben, was war. Der Krieg ist den Völkern ja kein Vernichter; aber er ist der große Entscheider. Geblieben ist der Inhalt, das was das Volk will, das wofür es sich geopfert hat, der Inhalt seines Daseins. Aber der Krieg hat entschieden, wie und in welchem Umfang dies Dasein wieder den Heimweg ins Sein finden soll. Die Völker aber, obwohl sie von Anfang an nach dem Frieden seufzen, sind erst fähig ihn zu ertragen in dem Augenblick, wo sich ihrem aufgeschreckten Bewußtsein dieser Hinweg ins stille Sein auftut. So gleich, wie, rein auf die Form gesehen, das Erwachen der Völker zum Krieg ist, so verschieden je nach dem Kriegsgeschick ist der Rückweg. Konnten wir dort die Völker nebeneinander betrachten, nur äußerlich geordnet nach dem Aufmarsch gegeneinander, so müssen wir sie jetzt in Gruppen ordnen. Das Ordnungsgesetz dieser doch auch selber wieder nicht spannungslosen Gruppen ist das Verhältnis zwischen Gewolltem und Erreichtem. Wir sehen England und Rußland, Österreich und Frankreich, endlich für sich allein gestellt das Land der Mitte, den Störenfried der ganzen Welt, Deutschland. Deutschlands Verteidigung war Verteidigung nicht eines bestehenden Zustands, sondern einer laufenden Entwicklung; nicht eines Status, sondern eines motus quo ante. Recht eigentlich also kämpfte es um den Frieden (...). Gerade weil es die schon im Frieden aufsteigende Weltmacht war, deshalb schien ihm schon die bloße Wiederkehr des Friedens Gewähr ferneren Aufsteigens; das Bewußtsein unerschöpflich quellender Kräfte machte den jungen Ritter friedfertig, zum Frieden fertig eigentlich in jedem Augenblick des Krieges. Das kaiserliche Wort 'zum Kriege gerüstet, zum Frieden bereit' blieb dauernd über den Ereignissen geschrieben. Tiefstes Unbewußtsein des Kriegswillens, höchstes Bewußtsein des Friedenswillens waren hier verschmolzen.

Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften III. Zweistromland.Kleinere Schriften zu Glauben und Denken, hg. von Reinhold und Annemarie Mayer, Den Haag 1984,S. 275 ff.

 
 

Franz Rosenzweig an seine Mutter,
19. Oktober 1918:

"Was tue ich mit bedeutenden Scheidemännern. Bedeutend bin ich selber. Ich will einen König. ... Daß wir alles verlieren, was zu verlieren ist, ist sicher. Auch die Hohenzollern rechne ich als einen reinen Verlust. Ich habe jetzt erst gemerkt, wie monarchisch ich bin; so weh tut mir das mit Wilhelm."

"Ich habe ja zu Anfang des Kriegs meine Kühle bewahrt. Ich habe eben 1914 nie an eine Niederlage geglaubt, immer nur höchstens an ein Hubertusburg, also ein Nichtsiegen, aber Erhaltenbleiben des Bismarckschen Resultats. Und so noch bis in dieses Jahr. Nun ist alles hin, und die Welt, wie ich sie mir vorstellte, ist nicht mehr."

 
 

Etwas weniger nostalgisch und kritischer gegenüber Deutschland hatte sich Franz Rosenzweig in einem Brief an Margrit Rosenstock,
vom 10. Oktober 1918 geäußert

Liebes Gritli,
in Rembertow* bei dem Kurs nach mir hat beim Scharfschiessen ein Lehrer, ein Hauptmann, auf Einwohner, die sich, was natürlich verboten ist, auf dem abgesperrten Gelände herumtrieben, offenbar um kupferne Führungsringe** zu sammeln, schiessen lassen und als der Schüler nicht gleich traf, selber die nächsten Kommandos gegeben und mit 2 Gruppen*** 3 Tote erzielt. Deutschland verdient, was ihm jetzt geschieht; das ist das Furchtbarste

*     In Rembertow bei Warschau hatte Rosenzweigs Offiziersanwärterkurs stattgefunden.
**   Solche Kupferringe blieben nach dem Abschuss von Granaten zurück und wurden als wertvoller Rohstoff gesammelt.
*** 'Gruppe' bedeutet in der Militärsprache das gleichzeitige Abfeuern aus verschiedenen Kanonen.

 
Franz Rosenzweig