Jüdisches Lehrhaus Göttingen Hilde Domin in Göttingen

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Jüdisches Lehrhaus Göttingen e.V.

22. Februar 2004

Cordula Tollmien:

„Abel steh auf…“ – Hilde Domin in Göttingen

Keine Stecknadel hätte man fallen hören können, als die 95jährige Hilde Domin auf Einladung des Jüdischen Lehrhauses Göttingen am 22. Februar im Gemeindesaal der St. Michaels Kirche in Göttingen nach einer Stunde mit „Abel steh auf“ einen wunderbaren Schlusspunkt unter ihre Lesung setzte. Es hätte allerdings auch keine Stecknadel fallen können, so hoffnungslos überfüllt war der kleine Saal, der eigentlich nur 80 Personen fassen sollte und in dem unter Zuhilfenahme von ein paar Holzbänken, des angrenzenden Flurs und des Fußbodens schließlich über 250 Menschen Platz fanden. Es hätte Hilde Domin sicher gefallen, wenn man sie darauf hingewiesen hätte, dass in dieser Enge auch Abel nicht hätte wieder aufstehen können. Sie hat sich ja auch nicht gescheut, vor Verlesen des Gedichts zu sagen, bei ihr sei Abel eben nicht tot, sondern nur ohnmächtig, deshalb die Aufforderung, er solle wieder aufstehen. Ihr geht es bestimmt nicht, wie ich kürzlich in einer Interpretation dieses Gedichts las, um die christliche Auferstehung, ihr geht es nicht darum, den toten Abel wieder zum Leben zu erwecken, ihr geht es darum, dass dieser Brudermord nicht hätte stattfinden sollen, dass Kain nicht zum Mörder hätte werden sollen – das will sie ungeschehen machen, den Mord und den Mörder Kain, der sich nicht verantwortlich fühlt für seinen Bruder. So unprätentiös wie sie selbst als Person, so sind auch ihre Gedichte, und genau dies ließ die Menschen in dem zu kleinen Saal die unbequeme Enge, den harten Fußboden und die zu schmalen Holzbänke über eine Stunde lang so nachhaltig vergessen, dass kein „Lauter bitte“, kein Räuspern die allgemeine Konzentration störte. Es war eine Situation wie bei den Sit-Ins in den 70er Jahren, nur dass es sehr viel ruhiger zuging, und Zuhörer wie Vortragende waren nach der Lesung von dieser allgemeinen gespannten Aufmerksamkeit wie elektrisiert. Hilde Domin hätte am liebsten das gesamte Publikum zum anschließenden gemeinsamen Abendessen mitgenommen und sie bedauerte noch, während ich sie zurück zum Hotel begleitete, dass die jungen Menschen - sie sprach, ehrlich gesagt, vor allem von den jungen Männern - die ihr während der Lesung, direkt zu Füßen gesessen hatten, nicht mit ins Lokal eingeladen worden waren. Ein junger Iraner hat übrigens nach der Lesung eines Bücher von Hilde Domin gekauft, weil er ihre Gedichte ins Persische übersetzen will – eine der wenigen Sprachen, in denen diese Gedichte noch nicht übertragen worden sind (oder sagen wir lieber, Hilde Domin war sich nicht ganz sicher, ob ihre Gedichte schon ins Persische übertragen worden sind oder nicht):

„Abel steh auf ….

damit Kain sagt

damit er es sagen kann

Ich bin dein Hüter

Bruder

wie sollte ich nicht dein Hüter sein

Täglich steh auf

damit wir es vor uns haben

dies Ja ich bin hier

ich dein Bruder

Damit die Kinder Abels sich nicht mehr fürchten

weil Kain nicht Kain wird ….“


Fotos

Hilde Domin Übersicht

 

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